Die tatsächliche Verständigung ist ein Begriff aus dem deutschen Steuer- und Zivilrecht, der das Erreichen eines übereinstimmenden Einvernehmens zwischen den Parteien (beispielsweise Finanzamt und Steuerpflichtigem oder Prozessparteien) beschreibt. In diesem ausführlichen Leitfaden werden wir die rechtlichen Grundlagen der tatsächlichen Verständigung erläutern, ihre Anwendungsbereiche aufzeigen, ihre Vor- und Nachteile diskutieren und den Prozess der tatsächlichen Verständigung Schritt für Schritt beschreiben. Zudem werden wir einige praktische Tipps für eine erfolgreiche tatsächliche Verständigung geben und häufig gestellte Fragen beantworten.
Rechtliche Grundlagen der tatsächlichen Verständigung
Die tatsächliche Verständigung ist im Steuerrecht auf Grundlage der Abgabenordnung (AO) und im Zivilrecht auf Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verankert. Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über die wichtigsten Gesetze und Vorschriften, die die tatsächliche Verständigung betreffen:
- § 88 AO – Sorgfaltspflicht der Finanzbehörden
- § 204 AO – Tatsachen und Beweismittel nachträglich bekannt
- § 226 AO – Erlass von Billigkeitsmaßnahmen
- § 227 AO – Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen
- § 157 BGB – Auslegung von Verträgen
- § 241 BGB – Schuldverhältnisse
- § 305 BGB – Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen
- § 320 BGB – Zurückbehaltungsrecht
- Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 10. April 2007, 2 BvL 2/04 – Recht auf ein faires Verfahren
Grundsätzlich gilt die sogenannte Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung, die besagt, dass beide Parteien an die getroffenen Vereinbarungen gebunden sind. Allerdings gibt es bestimmte Umstände, unter denen eine tatsächliche Verständigung ihre Bindungswirkung verliert oder angefochten werden kann. Dazu zählen beispielsweise:
- Fehler in der Einigung
- Neue rechtliche Entwicklungen
- Wegfall oder Änderung von Tatsachen und Umständen
- Rechtsmissbrauch
- Verletzung verfahrensrechtlicher Grundsätze
- Verstoß gegen nationales oder europäisches Recht
Anwendungsbereiche der tatsächlichen Verständigung
Sie kommt in verschiedenen Bereichen des Rechts zur Anwendung. In diesem Abschnitt betrachten wir einige gängige Anwendungsbereiche:
Steuerrecht
Im Steuerrecht ermöglicht sie dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt, Unklarheiten oder Streitigkeiten bezüglich der Bemessungsgrundlagen oder des Steueranspruchs zu klären. Dabei reicht die Bandbreite von Einigungen über die Anwendung steuerlicher Vorschriften bis hin zur Festsetzung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen oder der Steuerhöhe selbst.
Zivil- und Arbeitsrecht
Im Zivil- und Arbeitsrecht kann sie im Rahmen von Vergleichen oder sonstigen vertraglichen Übereinkünften zwischen den Parteien zur Beilegung von Streitigkeiten oder zur Regelung von vertraglichen Ansprüchen eingesetzt werden.
Strafrecht
Auch im Strafrecht kann sie als Mittel zur Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensökonomie genutzt werden. In Übereinstimmung mit bestimmten gesetzlichen Vorgaben kann ein Geständnis des Angeklagten im Gegenzug für eine Milderung des Strafmaßes erfolgen.
Vor- und Nachteile der tatsächlichen Verständigung
Sie bietet sowohl Vorteile als auch Nachteile für die beteiligten Parteien. In diesem Abschnitt gehen wir auf die wichtigsten Vor- und Nachteile ein:
Vorteile
- Kosteneinsparungen: Die tatsächliche Verständigung kann dazu beitragen, die Kosten eines langwierigen Gerichtsverfahrens zu vermeiden.
- Zeitersparnis: Die Einigung auf eine tatsächliche Verständigung kann den Parteien dabei helfen, schneller zu einer Lösung zu gelangen.
- Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten: Eine tatsächliche Verständigung kann einen potenziellen Rechtsstreit vollständig vermeiden oder einen bereits begonnenen Streit schlichten.
- Flexibilität: Die Parteien können bei der Gestaltung einer tatsächlichen Verständigung auf ihre individuellen Bedürfnisse und Anforderungen eingehen.
- Vertraulichkeit: Im Gegensatz zu Gerichtsverfahren, die in der Regel öffentlich sind, bleibt der Inhalt einer tatsächlichen Verständigung in der Regel vertraulich.
Nachteile
- Bindungswirkung: Die Parteien sind grundsätzlich an die getroffene tatsächliche Verständigung gebunden, auch wenn diese im Nachhinein als nachteilig oder ungünstig erscheint.
- Keine Rechtskraft: Eine tatsächliche Verständigung hat – im Gegensatz zu einem gerichtlichen Urteil oder einem gerichtlichen Vergleich – keine unmittelbare Rechtskraft. Das bedeutet, dass sie in der Regel nicht vollstreckbar ist und gegebenenfalls durch ein Gericht überprüft oder ergänzt werden muss.
- Rechtsberatung: Da die tatsächliche Verständigung eine rechtlich komplexe Angelegenheit sein kann, sind die beteiligten Parteien oft auf anwaltliche Unterstützung angewiesen, um ihre Rechte und Pflichten angemessen wahren und vertreten zu können.
- Risiko von Irrtümern: Bei der tatsächlichen Verständigung besteht das Risiko von Irrtümern, Fehleinschätzungen oder unzulänglichen Vereinbarungen, die im Nachhinein zu Problemen oder Streitigkeiten führen können.
Der Prozess der tatsächlichen Verständigung Schritt für Schritt
Der Prozess kann je nach Fall unterschiedlich gestaltet sein. Im Folgenden finden Sie jedoch einen allgemeinen Leitfaden, wie sie in der Praxis ablaufen kann:
- Vorbereitung: Beide Parteien legen ihre Standpunkte und Forderungen dar und bereiten sich auf die Verhandlungen vor. Dabei können sie auch den Rat eines Rechtsanwalts oder eines anderen sachkundigen Beraters in Anspruch nehmen.
- Verhandlung: Die Parteien setzen sich an den Verhandlungstisch und versuchen, ihre Differenzen zu überbrücken. Dies kann in mehreren Runden erfolgen und auch den Einsatz von Vermittlern, Schiedsleuten oder anderen neutralen Dritten beinhalten.
- Niederschrift: Wenn eine Einigung erzielt wurde, wird diese in einer schriftlichen Vereinbarung oder einem Vergleich festgehalten. Dabei sind die gesetzlichen Vorgaben und Formvorschriften zu beachten, um die Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung sicherzustellen.
- Prüfung: Beide Parteien sollten die schriftliche Vereinbarung sorgfältig prüfen, bevor sie sie unterzeichnen. In diesem Zusammenhang kann auch eine anwaltliche Beratung sinnvoll sein, um sicherzustellen, dass die Vereinbarung den eigenen Interessen und den gesetzlichen Vorschriften entspricht.
- Umsetzung: Sobald die Vereinbarung unterzeichnet wurde, sind beide Parteien verpflichtet, die darin getroffenen Regelungen umzusetzen. Dabei können gegebenenfalls auch nachträgliche Anpassungen oder Ergänzungen erforderlich sein.
- Überwachung: In einigen Fällen kann es notwendig sein, die Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen zu überwachen, um sicherzustellen, dass beide Parteien ihren Verpflichtungen nachkommen. Dies kann beispielsweise durch eine neutrale Überwachungsinstanz erfolgen.
Praktische Tipps für eine erfolgreiche tatsächliche Verständigung
Die erfolgreiche Gestaltung und Durchführung erfordert eine gute Vorbereitung, Verhandlungsgeschick und rechtliches Know-how. Im Folgenden finden Sie einige praktische Tipps, die Ihnen dabei helfen können, eine tatsächliche Verständigung zu erreichen, die Ihren Interessen entspricht:
- Führen Sie eine umfassende Analyse der zugrunde liegenden Fakten und Rechtsfragen durch, um Ihren Verhandlungsspielraum und Ihre strategischen Optionen zu bestimmen.
- Bereiten Sie Ihre Verhandlungsposition sorgfältig vor, indem Sie Ihre Ziele und Ihre alternative Strategie, falls keine Einigung erzielt wird, definieren.
- Sorgen Sie dafür, dass Sie über das notwendige Verhandlungsgeschick verfügen, um Ihre Position effektiv zu vertreten und eine angemessene Vereinbarung zu erzielen.
- Bedenken Sie, dass der Prozess der tatsächlichen Verständigung oft Zeit und Geduld erfordert und eine erfolgreiche Verhandlung möglicherweise mehrere Sitzungen erfordert.
- Ziehen Sie rechtliche Hilfe von einem erfahrenen Rechtsanwalt oder sonstigen sachkundigen Berater in Betracht, um Ihre rechtlichen Optionen und Risiken besser einschätzen und vertreten zu können.
- Achtung vor voreiligen Vertragsabschlüssen. Nehmen Sie sich genug Zeit, um alle Aspekte der Vereinbarung sorgfältig zu prüfen und mögliche Konsequenzen abzuwägen.
- Stellen Sie sicher, dass die schriftliche Vereinbarung rechtlich korrekt und formal einwandfrei ist. Achten Sie dabei insbesondere auf die Einhaltung von gesetzlichen Vorgaben, etwaigen Zustimmungserfordernissen oder Formvorschriften.
Häufig gestellte Fragen (FAQs) zur tatsächlichen Verständigung
Im Folgenden finden Sie Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Thema:
Was ist eine tatsächliche Verständigung?
Sie ist eine vertragliche Vereinbarung zwischen zwei Parteien (beispielsweise Finanzamt und Steuerpflichtiger oder Prozessparteien), in der Unklarheiten oder Streitigkeiten hinsichtlich der Auslegung oder Anwendung von Rechtsvorschriften sowie Fragen der tatsächlichen Umstände geklärt werden.
Wann kommt eine tatsächliche Verständigung zur Anwendung?
Sie können in verschiedenen rechtlichen Kontexten vorkommen, beispielsweise im Steuerrecht, Zivil- und Arbeitsrecht oder Strafrecht. Sie dienen der Klärung von rechtlichen oder faktischen Unklarheiten und der Vermeidung von Streitigkeiten.
Wie wird eine tatsächliche Verständigung rechtlich wirksam?
Die Wirksamkeit hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben, Formvorschriften und Zustimmungserfordernissen. In der Regel ist eine schriftliche Vereinbarung zwischen den Parteien erforderlich, um die tatsächliche Verständigung verbindlich und nachweisbar zu machen.
Kann eine tatsächliche Verständigung angefochten werden?
Grundsätzlich sind die Parteien an die getroffene Verständigung gebunden. In bestimmten Fällen kann die Bindungswirkung jedoch entfallen oder angefochten werden, etwa bei Vorliegen von Fehlern in der Vereinbarung, neuen rechtlichen Entwicklungen oder Verstößen gegen geltendes Recht.
Was sind die Vorteile und Nachteile der tatsächlichen Verständigung?
Zu den Vorteilen zählen Kosteneinsparungen, Zeitersparnis, Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten, Flexibilität und Vertraulichkeit. Zu den Nachteilen gehören die Bindungswirkung, die fehlende unmittelbare Rechtskraft, die Notwendigkeit rechtlicher Beratung und das Risiko von Fehlern oder unzulänglichen Vereinbarungen.
Was sind praktische Tipps für eine erfolgreiche tatsächliche Verständigung?
Um eine erfolgreiche Verständigung zu erreichen, sollten die Parteien eine umfassende Analyse der Fakten und Rechtsfragen durchführen, ihre Verhandlungsposition vorbereiten, Verhandlungsgeschick einsetzen, rechtliche Hilfe in Betracht ziehen, Bedacht walten lassen und auf die rechtliche und formale Richtigkeit der getroffenen Vereinbarung achten.
Was ist der Unterschied zwischen einer tatsächlichen Verständigung und einem gerichtlichen Vergleich?
Während eine tatsächliche Verständigung eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Parteien ist, die in der Regel außerhalb eines Gerichtsverfahrens getroffen wird, handelt es sich bei einem gerichtlichen Vergleich um eine von einem Gericht festgestellte und bestätigte Einigung, die während eines laufenden Gerichtsverfahrens erzielt wurde. Ein gerichtlicher Vergleich hat in der Regel unmittelbare Rechtskraft und ist vollstreckbar, während dies bei einer tatsächlichen Verständigung nicht immer gegeben ist.
Können auch private Vertragsparteien eine tatsächliche Verständigung schließen?
Ja, prinzipiell können auch private Vertragsparteien eine Verständigung schließen. Sie ist flexibel und kann sich nicht nur auf Fragen der Rechtsauslegung und Anwendung, sondern auch auf faktische Umstände beziehen, wodurch sie für private Parteien in vielen Fällen eine geeignete Möglichkeit zur Regelung von Vertragsbeziehungen, wie beispielsweise Geschäftsbedingungen oder Vertragserfüllung, darstellt.
Kann ich selbst eine tatsächliche Verständigung verhandeln, oder benötige ich einen Rechtsanwalt?
Während es nicht zwingend erforderlich ist, einen Rechtsanwalt für die Verhandlung einzuschalten, kann dies in vielen Fällen sinnvoll sein, um rechtliche Fallstricke zu vermeiden und sicherzustellen, dass die eigenen Interessen und Anforderungen angemessen vertreten und berücksichtigt werden. Insbesondere bei komplexen Sachverhalten oder hohen Streitwerten kann eine anwaltliche Beratung empfehlenswert sein.
Wie lange dauert der Prozess einer tatsächlichen Verständigung?
Die Dauer des Prozesses hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Komplexität der Rechts- und Sachlage, der Kooperationsbereitschaft der beteiligten Parteien und eventuellen Verhandlungsrunden. Während in einigen Fällen eine tatsächliche Verständigung innerhalb kurzer Zeit erreicht werden kann, kann es in anderen Fällen mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, bis eine verbindliche und zufriedenstellende Einigung gefunden ist.
Fazit
Die tatsächliche Verständigung ist ein wichtiges Instrument im deutschen Rechtssystem, das dazu beiträgt, Unklarheiten oder Streitigkeiten bezüglich der Auslegung oder Anwendung von Rechtsvorschriften oder der Erfassung und Würdigung von Tatsachen zu klären. Durch sie können die beteiligten Parteien ihre Differenzen bereinigen, Kosteneinsparungen erzielen, langwierige rechtliche Auseinandersetzungen vermeiden und ihre individuellen Bedürfnisse und Anforderungen besser berücksichtigen. Allerdings bestehen auch gewisse rechtliche und praktische Risiken und Fallstricke, die eine sorgfältige Vorbereitung, Verhandlung und Umsetzung erfordern. Häufig ist hierbei die Unterstützung und Beratung durch einen erfahrenen Rechtsanwalt oder sonstigen sachkundigen Berater angebracht, um die eigenen Interessen effektiv zu wahren und eine angemessene und rechtssichere Vereinbarung zu erzielen.
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