Das Schadensersatzrecht ist ein zentraler Bestandteil des deutschen Zivilrechts und dient dem Ausgleich von Schäden, welche ein Schuldner einem Gläubiger durch schädigendes Handeln fügt. Ein essenzieller Aspekt des Schadensersatzrechts ist die Frage, ob eine Kausalität zwischen dem Schädiger und dem Schaden besteht. Eine interessante Sonderform der Kausalität ist die so genannte „überholende Kausalität“, die in der Rechtsanwendung vielseitig und praxisrelevant ist.
In diesem Blog-Beitrag widmen wir uns als erfahrene Rechtsanwaltskanzlei intensiv dem Thema der überholenden Kausalität im Schadenersatzrecht. Nach einer Einführung in die Grundlagen der Kausalität und der überholenden Kausalität folgt eine Auseinandersetzung mit praxisorientierten Fallgestaltungen, aktuellen Gerichtsurteilen und häufig gestellten Fragen (FAQs) in diesem Zusammenhang.
Grundlagen der Kausalität und der überholenden Kausalität
Um das Konzept der überholenden Kausalität besser zu verstehen, ist es notwendig, die grundlegenden Aspekte der Kausalität im Schadenersatzrecht zu klären.
- Kausalität als Voraussetzung für Schadenersatz: In § 249 ff. BGB wird die Haftung für Schadenersatz geregelt. Eine zentrale Voraussetzung für einen Schadenersatzanspruch ist die Kausalität. Damit ein Schädiger haftet, muss sein schädigendes Handeln ursächlich für den eingetretenen Schaden sein.
- Äquivalenztheorie als Prüfungsmaßstab: Im Zivilrecht wird zur Prüfung der Kausalität die sogenannte „Äquivalenztheorie“ angewandt. Hierbei handelt es sich um eine abstrakte Betrachtungsweise, bei der gefragt wird, ob der Schaden „ohne das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre“ (sog. conditio sine qua non).
- Problemfeld der „mehraktigen Kausalität“: In der Praxis stellt sich oft das Problem, dass verschiedene Handlungen an einem Schadensereignis beteiligt sind. Hierbei kann es Schwierigkeiten geben, die Kausalverkettung zwischen dem schädigenden Handeln und dem eingetretenen Schaden linear nachzuvollziehen.
- Überholende Kausalität als Lösungsansatz: Die überholende Kausalität ist eine spezielle Form der Kausalitätsprüfung, wenn es mehrere Schadensursachen gibt und eine davon zeitlich nach einer anderen eintritt. Die überholende Kausalität ermöglicht eine sachgerechte Lösung in Fällen, in denen das Geschehen durch weiteres Handeln überlagert wurde und das ursprüngliche schädigende Handeln an Bedeutung verloren hat.
Bedingungen und Bewertung der überholenden Kausalität
Die überholende Kausalität ist eine praxisorientierte Lösung, um die Kausalitätsfrage bei mehraktigen Schadensereignissen zu klären. Für die Anwendung der überholenden Kausalität müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:
- Zeitliche Reihenfolge der Schadensereignisse: Die überholende Kausalität setzt voraus, dass es mehrere Schadensursachen gibt und eine davon zeitlich nach einer anderen eintritt.
- Faktische Überholung der ersten Kausalität: Entscheidend ist, dass das spätere Ereignis faktisch die erste schädigende Handlung überholt hat, weil der Schaden auch ohne die erste Schadensursache eingetreten wäre.
- Keine vollständige Vorhersehbarkeit des überholenden Ereignisses: Eine überholende Kausalität liegt nur dann vor, wenn das spätere Ereignis für den Schädiger nicht vollständig vorhersehbar war.
- Adäquate Kausalität als Prüfungsmaßstab: Um die scheinbar zufällige Verkettung von Ereignissen juristisch einzufangen, bedient man sich der „adequaten Kausalität“ als weiteres Prüfungskriterium. Die Kausalität ist „adäquat“, wenn ein schädigendes Ereignis nach der Lebenserfahrung und den Umständen objektiv zu erwarten war.
Ebenfalls zu beachten ist, dass die überholende Kausalität keine eigenständige Haftungsbeschränkung darstellt, sondern lediglich als Prüfungsmethode angewendet wird, um Kausalitätsfragen in komplexen Fällen zu klären.
Praxisbeispiel: Die überholende Kausalität im Verkehrsrecht
Eine Fallkonstellation, in der die überholende Kausalität häufig zum Tragen kommt, ist das Verkehrsrecht. Anhand eines konkreten Beispiels soll die Anwendung der überholenden Kausalität verdeutlicht werden:
Angenommen, A fährt mit seinem Pkw auf einer Landstraße und übersieht ein Verkehrsschild, das eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h vorschreibt. A setzt seine Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h fort. Kurz darauf verliert ein entgegenkommendes Fahrzeug, das von B gesteuert wird, aufgrund einer geplatzten Reifenpanne die Kontrolle und kollidiert mit dem Pkw von A.
In diesem Fall kann die Frage aufkommen, ob A aufgrund seiner überhöhten Geschwindigkeit für den Schaden haftet. Hier kommt die überholende Kausalität ins Spiel:
- Die zeitliche Reihenfolge der Schadensereignisse liegt vor, da der Reifenplatzer von B nach der Geschwindigkeitsübertretung von A eintritt.
- Die faktische Überholung der ersten Kausalität kann ebenfalls festgestellt werden: Auch wenn A sich an die zulässige Geschwindigkeit gehalten hätte, wäre der Unfall durch den Reifenplatzer von B wahrscheinlich trotzdem passiert.
- Der Reifenplatzer von B war für A nicht vollständig vorhersehbar.
- Die adäquate Kausalität kann hier festgestellt werden, da der Schaden aufgrund des Reifenplatzers objektiv zu erwarten war.
Aufgrund der überholenden Kausalität würde A in diesem Fall nicht für den entstandenen Schaden haften, weil der Reifenplatzer von B faktisch die Geschwindigkeitsübertretung von A überholt hat und der Schaden auch ohne diese Übertretung entstanden wäre.
Aktuelle Gerichtsurteile zur überholenden Kausalität
In jüngster Zeit hat die Rechtsprechung das Konzept der überholenden Kausalität weiterentwickelt und zur Lösung von Haftungsfragen herangezogen. Im Folgenden werden zwei aktuelle Gerichtsurteile vorgestellt, die das Thema der überholenden Kausalität behandeln:
Urteil: BGH, Urteil vom 20.02.2018 – VI ZR 30/17
In diesem Fall entschied der Bundesgerichtshof (BGH) über einen Verkehrsunfall auf einer Autobahn, bei dem ein Fahrzeug aufgrund eines sogenannten „Elefantenrennens“ (Überholvorgang mit minimaler Geschwindigkeitsdifferenz) eine Kollision verursachte. Das Gericht hatte zu prüfen, ob ein Fehlverhalten des Geschädigten bei der Schadensentstehung eine Rolle gespielt hat und ob in diesem Zusammenhang eine überholende Kausalität in Betracht kommt.
Der BGH stellte fest, dass das Fehlverhalten des Geschädigten nicht kausal für den Schaden war, weil das Verhalten des Unfallverursachers faktisch eine selbständige, überholende Kausalität begründete. Der Geschädigte musste somit nicht für sein Fehlverhalten haften. In seiner Begründung verwendete der BGH auch den Begriff der überholenden Kausalität und bestätigte damit die Relevanz dieses Konzepts für die juristische Praxis.
Urteil: OLG Hamm, Urteil vom 19.10.2012 – 9 U 38/12
In diesem Fall ging es um einen Verkehrsunfall, bei dem ein Kfz-Fahrer am Steuer seines Fahrzeugs einen Herzinfarkt erlitt und infolgedessen in das Fahrzeug eines Geschädigten fuhr. Die Fahrzeugversicherung des Fahrers beanspruchte für diesen Fall Leistungen aus der Kfz-Haftpflichtversicherung des Unfallgeschädigten.
Das Oberlandesgericht Hamm (OLG) entschied, dass der Zusammenbruch des Fahrers als Akt höherer Gewalt anzusehen war und eine überholende Kausalität im Verhältnis zur Betriebsgefahr des Fahrzeugs begründete. In der Folge verneinte das Gericht eine Haftung des Unfallverursachers auf Basis der Betriebsgefahr.
Diese beiden Gerichtsurteile verdeutlichen, wie die überholende Kausalität von den Gerichten angewendet und gegebenenfalls auch weiterentwickelt wird.
FAQs zur überholenden Kausalität
Im Folgenden beantworten wir einige häufig gestellte Fragen (FAQs) zur überholenden Kausalität im Schadenersatzrecht:
Welche Bedeutung hat die überholende Kausalität für die Haftungsverteilung in der Praxis?
Die Anwendung der überholenden Kausalität kann in der Praxis zu einer Verteilung der Haftung führen, die der tatsächlichen Verursachung des Schadens besser entspricht. In komplexen Fällen mit mehreren Kausalverkettungen ermöglicht die überholende Kausalität somit eine sachgerechte und verursachungsgerechte Haftungsverteilung.
Was ist der Unterschied zwischen adäquater Kausalität und überholender Kausalität?
Adäquate Kausalität und überholende Kausalität sind zwei unterschiedliche Konzepte der Kausalitätsprüfung im Schadenersatzrecht. Während die adäquate Kausalität ein allgemeiner Prüfungsmaßstab ist, der sich auf die objektive Erwartbarkeit eines Schadensereignisses bezieht, kommt die überholende Kausalität speziell bei mehraktigen Schadensereignissen zum Einsatz, bei denen ein später eingetretenes Ereignis eine frühere Kausalität faktisch überholt und den Schaden unabhängig von der ersten Kausalität herbeigeführt hat.
Gilt die überholende Kausalität nur im Verkehrsrecht, oder wird sie auch in anderen Rechtsgebieten angewendet?
Die überholende Kausalität ist ein rechtsgebietsübergreifendes Konzept, das grundsätzlich in allen Bereichen des Schadenersatzrechts zur Anwendung kommen kann. Obwohl sie besonders häufig in Verkehrsunfallsituationen praxisrelevant ist, kann die überholende Kausalität auch in anderen Rechtsgebieten wie etwa dem Medizinrecht oder dem Arbeitsrecht angewendet werden.
Was passiert, wenn zwei Schäden unabhängig voneinander entstanden sind und kein überholendes Ereignis vorliegt?
In diesem Fall kommt die überholende Kausalität nicht zur Anwendung, weil keine zeitliche Überholung vorliegt. Die Haftung für die beiden Schäden wird dann getrennt voneinander betrachtet und entsprechend den jeweiligen Kausalverkettungen beurteilt.
Überholende Kausalität – Ein Fazit
Die überholende Kausalität ist ein wichtiges und praxisrelevantes Konzept im Schadenersatzrecht. Sie kommt insbesondere bei komplexen Schadensereignissen mit mehreren Kausalverkettungen zur Anwendung und ermöglicht eine sachgerechte Aufklärung von Kausalitätsfragen. Die Gerichtsentscheidungen zur überholenden Kausalität zeigen, dass die Rechtsprechung dieses Konzept in der juristischen Praxis berücksichtigt und fortentwickelt.
Als erfahrene Rechtsanwaltskanzlei können wir Ihnen bei Schadenersatzfragen im Zusammenhang mit der überholenden Kausalität kompetente Unterstützung und professionelle Beratung bieten. Unser Team aus Anwälten steht Ihnen gerne für eine individuelle Beratung zur Verfügung.
Unsere Rechtsanwälte stehen Ihnen bundesweit und im deutschsprachigen Ausland zur Verfügung.
Arthur Wilms | Rechtsanwalt | Associate
Philipp Franz | Rechtsanwalt | Associate
Wolfgang Herfurtner | Rechtsanwalt | Geschäftsführer | Gesellschafter
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