Der Augenscheinsbeweis ist eine wichtige Beweismittelkategorie im deutschen Zivil- und Strafprozessrecht. Er basiert auf der direkten Beobachtung und Wahrnehmung von Tatsachen durch das Gericht und kann einen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben. In dieser umfassenden Analyse erfahren Sie, welche Rolle der Augenscheinsbeweis im deutschen Rechtsrahmen spielt, welche Voraussetzungen für seine Zulässigkeit und Verwertbarkeit gegeben sein müssen und wie er zur Klärung von Sachverhalten beitragen kann.

Überblick über den Augenscheinsbeweis

Der Augenscheinsbeweis ist eine besondere Form der gerichtlichen Beweisaufnahme, bei der das Gericht selbst die zu beweisende Tatsache wahrnimmt. Er kann in verschiedenen Formen auftreten, beispielsweise als:

  • Besichtigung von Tatorten oder Unfallstellen
  • Inaugenscheinnahme von Gegenständen, Dokumenten oder Personen
  • Vorführung von Filmen, Fotos oder Tonaufnahmen

Der Augenscheinsbeweis ist ein unmittelbares Beweismittel, da er direkt auf die Wahrnehmung des Gerichts einwirkt und nicht auf die Wahrnehmung eines Zeugen oder Sachverständigen angewiesen ist. Daher kommt ihm in der Beweiswürdigung eine besondere Bedeutung zu.

Rechtliche Grundlagen des Augenscheinsbeweises

Die rechtlichen Grundlagen des Augenscheinsbeweises finden sich im deutschen Zivilprozessrecht in den §§ 371-372 ZPO und im Strafprozessrecht in den §§ 86, 244 StPO. Die Vorschriften regeln unter anderem die Anordnung, Durchführung und Protokollierung der Augenscheinnahme. Im Verwaltungsprozessrecht finden sich entsprechende Regelungen in § 98 VwGO, im Arbeitsgerichtsprozess in § 61 ArbGG und im Sozialgerichtsprozess in § 118 SGG.

Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Augenscheinsbeweises

Der Augenscheinsbeweis ist grundsätzlich zulässig, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  1. Die zu beweisende Tatsache ist für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich.
  2. Die Beweisaufnahme ist nicht unverhältnismäßig, insbesondere im Hinblick auf den Aufwand, der mit der Durchführung verbunden ist.
  3. Die Beweisaufnahme verstößt nicht gegen gesetzliche Vorschriften oder moralische Grundsätze.

Es liegt im Ermessen des Gerichts, ob es einen Augenscheinsbeweis anordnet oder nicht. Hierbei kann das Gericht auch auf die Initiative der Parteien oder die Stellung von Beweisanträgen zurückgreifen.

Verwertbarkeit des Augenscheinsbeweises

Ein Augenscheinsbeweis ist verwertbar, wenn er ordnungsgemäß erhoben wurde und keine Beweisverwertungsverbote bestehen. Bei der Verwertung des Augenscheinsbeweises sind folgende Grundsätze zu beachten:

  1. Der Augenscheinsbeweis muss in der Hauptverhandlung erhoben werden, damit die Parteien Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen (§ 250 StPO, § 372 ZPO).
  2. Die Beweisaufnahme muss protokolliert werden, damit sie nachvollziehbar und überprüfbar ist (§ 86 StPO, § 371 ZPO).
  3. Das Gericht darf keine unzulässigen Schlüsse aus dem Augenscheinsbeweis ziehen, sondern muss sich auf die tatsächlich wahrgenommenen Umstände beschränken.
  4. Das Gericht darf nicht aufgrund des Augenscheinsbeweises eigene Fachkenntnisse oder Sachverständigengutachten ersetzen (sog. „Selbstleseverbot“).

Wenn ein Augenscheinsbeweis verwertbar ist, kann er im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Gerichts (§ 261 StPO, § 286 ZPO) berücksichtigt werden.

Aktuelle Gerichtsurteile zum Augenscheinsbeweis

Im Folgenden werden einige aktuelle Gerichtsurteile zum Augenscheinsbeweis vorgestellt, die die Bedeutung dieses Beweismittels im deutschen Rechtsrahmen verdeutlichen:

Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. November 2017, Az. VIII ZR 261/16

In diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof die Bedeutung des Augenscheinsbeweises im Mietrecht hervorgehoben. Im konkreten Fall ging es um einen Mieter, der behauptete, dass seine Wohnung aufgrund von Lärmbelästigungen und Störungen durch Nachbarn nicht mehr bewohnbar sei. Der BGH entschied, dass das Gericht in einem solchen Fall einen Augenscheinsbeweis durchführen und die Wohnung besichtigen müsse, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Die bloße Anhörung von Zeugen oder die Einholung von Sachverständigengutachten sei in diesem Fall nicht ausreichend, um die tatsächlichen Verhältnisse festzustellen.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 26. Januar 2018, Az. I-10 U 97/17

In diesem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ging es um einen Streit zwischen zwei Nachbarn über die Höhe einer Hecke. Das Gericht entschied, dass es im Rahmen eines Augenscheinsbeweises selbst die Hecke besichtigen und deren Höhe ermitteln müsse. Dabei stellte das Gericht klar, dass es sich nicht auf die Angaben der Parteien oder Zeugen verlassen dürfe, sondern seine eigene Wahrnehmung maßgeblich sei. Das Gericht verwies dabei auf die besondere Bedeutung des Augenscheinsbeweises bei der Klärung von Sachverhalten im Nachbarschaftsrecht.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 14. November 2017, Az. VI ZR 534/16

Der Bundesgerichtshof hat in diesem Verfahren die Bedeutung des Augenscheinsbeweises bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen betont. Im konkreten Fall ging es um die Frage, ob ein Autofahrer gegen seine Sorgfaltspflicht verstoßen hatte, indem er bei Dunkelheit und regennasser Fahrbahn eine unzureichend beleuchtete Verkehrsinsel übersehen hatte. Das Gericht entschied, dass ein Augenscheinsbeweis notwendig sei, um die Sichtverhältnisse zur Unfallzeit nachzuvollziehen und die Frage der Fahrlässigkeit des Autofahrers zu beurteilen. Die bloße Anhörung von Zeugen oder die Einholung von Sachverständigengutachten sei in einem solchen Fall nicht ausreichend, um die tatsächlichen Verhältnisse festzustellen.

FAQ zum Augenscheinsbeweis

Im Folgenden finden Sie Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Thema Augenscheinsbeweis:

Was ist ein Augenscheinsbeweis?

Ein Augenscheinsbeweis ist eine Form der gerichtlichen Beweisaufnahme, bei der das Gericht selbst die zu beweisende Tatsache wahrnimmt. Der Augenscheinsbeweis kann in verschiedenen Formen auftreten, beispielsweise als Besichtigung eines Tatorts oder einer Unfallstelle, Inaugenscheinnahme von Gegenständen, Dokumenten oder Personen oder Vorführung von Filmen, Fotos oder Tonaufnahmen.

Wann ist ein Augenscheinsbeweis zulässig?

Ein Augenscheinsbeweis ist zulässig, wenn die zu beweisende Tatsache für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich ist, die Beweisaufnahme nicht unverhältnismäßig ist, insbesondere im Hinblick auf den Aufwand, der mit der Durchführung verbunden ist, und die Beweisaufnahme nicht gegen gesetzliche Vorschriften oder moralische Grundsätze verstößt.

Wie wird ein Augenscheinsbeweis durchgeführt?

Die Durchführung eines Augenscheinsbeweises erfolgt in der Regel im Rahmen der Hauptverhandlung. Das Gericht besichtigt den Tatort, die Unfallstelle oder den Gegenstand der Beweisaufnahme und nimmt die zu beweisenden Tatsachen direkt wahr. Die Beweisaufnahme muss protokolliert werden, damit sie nachvollziehbar und überprüfbar ist.

Welche Rolle spielt der Augenscheinsbeweis bei der Beweiswürdigung?

Der Augenscheinsbeweis ist ein unmittelbares Beweismittel, da er direkt auf die Wahrnehmung des Gerichts einwirkt und nicht auf die Wahrnehmung eines Zeugen oder Sachverständigen angewiesen ist. Daher kommt ihm in der Beweiswürdigung eine besondere Bedeutung zu. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Gerichts kann der Augenscheinsbeweis einen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben.

Kann das Gericht eigene Fachkenntnisse oder Sachverständigengutachten durch einen Augenscheinsbeweis ersetzen?

Nein, das Gericht darf keine eigenen Fachkenntnisse oder Sachverständigengutachten durch einen Augenscheinsbeweis ersetzen (sog. „Selbstleseverbot“). Das Gericht muss sich bei der Verwertung des Augenscheinsbeweises auf die tatsächlich wahrgenommenen Umstände beschränken und darf keine unzulässigen Schlüsse ziehen.

Fazit

Der Augenscheinsbeweis ist eine wichtige und unmittelbare Beweismittelkategorie im deutschen Rechtsrahmen. Er bietet dem Gericht die Möglichkeit, sich direkt und unabhängig von Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten ein Bild von den zu beweisenden Tatsachen zu machen. Damit trägt der Augenscheinsbeweis wesentlich zur Klärung von Sachverhalten und zur Gewährleistung einer umfassenden und gerechten Entscheidungsfindung bei. Die Kenntnis der rechtlichen Grundlagen, Voraussetzungen und Verwertbarkeit des Augenscheinsbeweises ist für jeden Rechtsanwalt unverzichtbar, um die bestmögliche Vertretung seiner Mandanten sicherzustellen.

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